Eine Erfahrung von Fremde und Heimat
Von der Bergstraße an die Seidenstraße
Ev. DekanatPfarrer Gerhard Hechler und Bischof Alfred Eichholz in der ev-luth.Kirche Taschkent15.03.2016 bbiew Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
„Als ich am ersten Tag vor der lutherischen Kirche in Taschkent stand, fühlte ich mich in der Fremde zuhause“ berichtet Hechler, der 2. Vorsitzende der Hauptgruppe des GAW-HN ist. Der Bischof der Lutheraner in Kirgisien Alfred Eichholz, der seit dem Tod des usbekischen Bischofs Kornelius Wiebe auch die Gemeinden in Usbekistan und Tadschikistan betreut, begleitet ihn bei den Fahrten in die Gemeinden.
Beide besuchen unter anderem den katholischen Bischof Jerzy Maculewicz, der der lutherischen Kirche sehr verbunden ist und viele Tipps zur Unterstützung der Gemeinde durch ausländische Partner geben konnte. Die Begegnung mit dem Ehepaar Schmidt bringt eine Überraschung. Viktor Schmidt ist der Gemeindevorsitzende und seine Frau Ludmila hält die Gottesdienste. Nach kurzem Zögern erinnern sich Ludmila Schmidt und Gerhard Hechler, dass sie sich bereits kennen. Beide haben 2013 an einem Seminar der theologischen Ausbildungsstätte Novosaratovka bei St. Petersburg teilgenommen, sie als Studentin, er als Dozent. Die Wiedersehensfreude ist groß.
Deutsche Liturgie - russische Predigt
Den Sonntagsgottesdienst zählt für Gerhard Hechler zum Höhepunkt der Reise. Ludmila hält die Liturgie in Deutsch und Bischof Eichholz die Predigt in Russisch. Die Choräle werden deutsch gesungen. Hechler singt im Kirchenchor mit und spricht ein Grußwort des GAW. Das Kircheninnere trägt Bilder von Martin Luther und Gustav-Adolf von Schweden. Die schönen evangelischen Choräle, die vertraute Liturgie, all das macht für Hechler das Gefühl von Heimat in der Fremde Zentralasiens aus - tausende Kilometer von Zuhause entfernt. Aus den Reaktionen der Gemeinde und der Verantwortlichen ist zu spüren, wie sehr sich die Glaubensgeschwister freuen, dass nach 10 Jahren wieder einmal ein Gast aus Hessen zu ihnen kommt.
Gottesdienst im Privathaus
Am Sonntagnachmittag begibt sich die Reisegruppe nach Krasnogorsk zum Gottesdienst der dortigen Gemeinde. Auch hier wird die Liturgie von Valentina Schweiz in Deutsch gehalten. Die Gemeinde versammelt sich in einem Betraum in einem Privathaus. Beeindruckend waren für Gerhard Hechler der Zusammenhalt der Menschen und die Innerlichkeit im Gottesdienst. Beim anschließenden Gespräch erfährt er, dass die Großeltern in der Verbannung in Sibirien nach 1955 die Wahl zwischen verschiedenen Ländern bekamen und sie tauschten das warme Usbekistan gegen das kalte Sibirien. Valentinas Generation sind als Enkel der Deportierten bereits im Dorf geboren und bleiben auch in ihrer Heimat. Ihre Herzlichkeit hat Gerhard Hechler sehr berührt.
„Mir wurde spätestens in diesem Gottesdienst klar, dass der Glaube für die evangelischen Christen hier einen großen Halt darstellt. Sie leben in der fremden Umgebung und das Treffen im Betsaal ist ein Stück Heimat und Identifikation“ so Hechler, der diesen Zusammenhalt auch jeden Sonntag in der Petrigemeinde in St. Peterburg erleben konnte, wo er immer wieder als Vertretungspfarrer tätig war.
Besitzansprüche müssen geklärt werden
Die lutherische Kirche in Usbekistan hat einige „Baustellen“. In Tschirtschik, einem Vorort von Taschkent, stehen zwei kirchliche Gebäude, ein Bethaus und ein Wohnhaus, seit langem leer. Der Besitzanspruch der lutherischen Kirche muss erst noch langwierig beurkundet werden. Hier wartet einige Arbeit auf Viktor Schmidt und Bischof Eichholz. Für die Lutheraner in Usbekistan und anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion sind diese Phänomene keine Überraschung. Zu Zeiten des Sozialismus waren die Kirchen verboten und die Kirchengebäude, Bethäuser und kircheneigenen Wohnhäuser wurden auf Privatpersonen übertragen. Die sind aber inzwischen ausgewandert oder verstorben. Ähnlich verhält es sich mit einem Wohnhaus in Taschkent. Auch hier müssen Dokumente besorgt und behördliche Entscheidungen bewirkt werden.
Und das ist längst nicht alles: Da ist hier ein Dach neu zu decken, ein Eingang zu restaurieren, eine Toilette zu erneuern, dort der Elektroanschluss neu zu installieren und ein Haussockel zu sanieren. Mitarbeiter für Gottesdienst und Konfirmandenarbeit sind eingestellt und sollen bezahlt werden, ebenso Kirchenmusiker und Hausmeister sowie Wächter. Verlässliche Wege müssen gefunden werden. Pfarrer Hecher verspricht im Namen des GAW den Gemeinden, beieinander zu bleiben und nach Möglichkeit zu helfen
Einwanderung, Verfolgung und Auswanderung
Die erste Einwanderung der deutschen Lutheraner in Usbekistan geschah im Zarenreich. Diese Lutheraner waren Militärangehörige, auf deren Initiative die ersten Kirchen gebaut wurden. Anfang der 30er Jahre erfolgte die Deportation Wolgadeutscher unter Stalin. Nach 1955 war dann die stärkste Zuwanderung, da die Deportierten Sibirien verlassen durften. Die Gemeinden trafen sich im Untergrund. Ende der 80er Jahre schätzte man die Zahl der deutschstämmigen Lutheraner in Usbekistan auf 80.000. Dann erfolgte die Zäsur der massenhaften Ausreise nach Deutschland. Bischof Eichholz beziffert die heutige Anzahl der Lutheraner heute auf etwa 3.000.
Auf ein Wiedersehen
In Fergana angekommen werden die Besucher wie alte Bekannte empfangen. Im gemeindeeigenen Bethaus erleben sie einen innigen Gottesdienst, auch hier von Frauen gestaltet. Beim anschließenden Kaffee mit „Kreppel“ (!) erzählen sie vom Schicksal ihrer Familien und wie die Fürsorge und die Leitung und die Liebe zur Gemeinde von den Großeltern über die Eltern auf sie selbst übergegangen sind. Für Gerhard Hechler eine bewegende Geschichte.
In Usbekistan gibt es nach dem Eindruck des deutschen Pfarrers ein starkes Stadt-Land-Gefälle und eine ungleiche Verteilung des Reichtums. „Ich denke, die Leute würden nur mit dem Kopf schütteln, wenn ich von unseren gesellschaftlichen und privaten Themen in Deutschland anfangen würde. Sie würden unsere Probleme, Ängste und unsere Ziele nicht verstehen. Wie denn auch?“ Der letzte Tag der Reise gehört der Fahrt nach der uralten Stadt Samarkand, aber auch der Suche nach dem Bethaus der lutherischen Gemeinde. Die Gemeinde hat die Registrierung leider verloren und existiert nicht mehr. Und das Bethaus ist verkauft worden. Eine neue Registrierung ist nur schwer zu bekommen. Die Gemeinde ist „abgewickelt.“ Das stärkste Erlebnis, so Hechler, sei die Gastfreundschaft der Gemeinden gewesen. Und er, der seit Jahren offiziell Pfarrer im Ruhestand ist, verspricht: „Ich werde wiederkommen.“
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